Meine Freundin findet sich zu dick. Adipös nennt man das heutzutage. Selbst der aktuelle Trend „Mut zum Molligsein“ kann sie nicht davon abhalten, den morgendlichen Kampf mit der Waage aufzunehmen. Der Tag wird gut, wenn 100 Gramm weniger angezeigt werden. Aber fragen Sie nicht, in welche Depression meine Freundin fällt bei 100 Gramm mehr - - 
Ich mag meine Freundin sehr und gehe mit ihr durch Dick und Dünn. Seit Jahren begleite ich sie durch sämtliche Diäten. Dem Inhalt ihres Kühlschranks sehe ich an, was aktuell ansteht. Lightprodukte,  Ananas, Sauerkraut, Quark, Kohl. Oder es ist gar nichts drin. Dann hat sie neue Abnehmpillen entdeckt, sündhaft teuer natürlich. Da bleiben gleichermaßen Kühlschrank, Magen und Geldbeutel leer. Als gute Freundin helfe ich, wo ich kann. Übernachte bei ihr, damit ich sie bei ihren nächtlichen Heißhungerattacken vom Überfall auf den Kühlschrank abhalten kann. Sehe mit ihr im Fernsehen irre Nachtfilme, weil wir wegen ihres laut knurrenden Magens nicht einschlafen können. Klebe bei ihr auf alle möglichen Körperteile Abnehmpflaster. Wir diskutieren über Phantomhunger, Kalorien und Fettpunkte. Wir surfen Fingernägel knabbernd (früher waren es Erdnüsse) stundenlang im weltweiten Netz auf der Suche nach neuen Wunderdiäten. Meine favorisierte Diät „Essen macht schlank“ rief bei ihr leider denselben Jojo-Effekt hervor wie alle vorherigen Diäten. Allerdings war sie zumindest in diesen vier Wochen unglaublich gut gelaunt. 
Lediglich beim Errechnen des Body Mass Index bin ich fast verzweifelt. Die Formel übersteigt an Kompliziertheit beinahe die Einsteinsche Relativitätstheorie. Und da wir schon mal dabei waren, stellten wir eine schlichte Dreisatzrechnung auf: Gesamtsumme der durch Diäten insgesamt abgenommenen Pfunde  geteilt durch die Summe der zugenommenen Pfunde. Oder so ähnlich. Egal, das Ergebnis war jedenfalls desaströs. 
Seit einigen Wochen geht meine Freundin zur Vereinigung „Weight-Sisters“. Sie meint, diese Treffen helfen, ihre aufkeimende Diätneurose in den Griff zu bekommen. Eine gestrenge Oberschwester überwacht das wöchentliche gemeinsame Wiegen und notiert akribisch die Ergebnisse. Vorher werden bei den Schwestern umfangreiche Vorkehrungen getroffen. Unnötig zu sagen, dass beim Wiegen die Kleidung aufs Nötigste reduziert wird. Ein normaler Slip wiegt mehr als ein Tanga, und ein Push Up – Sie können es sich denken. Auch wiegt eine volle Blase locker 100 Gramm, und selbst Ringe, Halsketten, Piercings schlagen zu Buche. Der Verzicht meiner Freundin auf den geliebten Nagellack zeigt ihre Entschiedenheit. Und doch hatte sie wieder eine Gewichtszunahme zu verkraften: 80 Gramm! 
Der stumme Vorwurf der strengen Oberschwester und die mitleidigen Blicke der Wiegeschwestern ließ sie handeln. Ich gebe zu, die Glatze stand ihr nicht mal schlecht. Sie brachte rund 350 Gramm Gewichtsverlust ein, aber auch den Vorwurf, unverfroren zu schwindeln. Denn das Gewicht der Haare gegen gerechnet hatte sie dann doch wieder 100 Gramm zugenommen. Auch Ausreden wie Geburtstags- und Dienstessen wurden abgeschmettert und mit vernichtenden Blicken quittiert. Schlimmer noch: meiner Freundin wurde mangelnde Ernsthaftigkeit, Verstocktheit und Willenlosigkeit vorgeworfen. An der Ehre gepackt quälte die Ärmste sich eine Woche lang unerschütterlich und verzichtete auf alles, was gut schmeckt. Ergebnis beim Wiegen: 130 Gramm Zunahme. Ihre Behauptung, sie sei schwanger, wurde flugs als Notlüge enttarnt. 
Als ich meine Freundin neulich im Krankenhaus besuchte, weil sie sich den entzündeten Blinddarm herausnehmen ließ, strahlte sie mich an. Die Operation bescherte ihr den glücklichen Verlust von sage und schreibe 2.380 Gramm! Sie hat sich nun entschlossen, ihre Mandeln herausnehmen zu lassen. Und gestern sah ich auf ihrem Wohnzimmertisch einen Prospekt liegen: Ihr Traumgewicht durch Brustverkleinerung...

Diät...